Leukämie: Transplantation kann manchen Kindern erspart werden

(Wien, 22.12.2022) Eine Studie in Zusammenarbeit mit der St. Anna Kinderkrebsforschung zeigt, dass eine Stammzelltransplantation bei einer bestimmten Leukämieform keinen Vorteil im Vergleich zur Chemotherapie bringt. „Sie sollte daher bei diesen Patient:innen auch nicht mehr routinemäßig eingesetzt werden“, sagt Ko-Erstautor der im Journal of Clinical Oncology veröffentlichten retrospektiven Studie, Univ.-Prof. Dr. Andishe Attarbaschi vom St. Anna Kinderspital. In einem nächsten Schritt wird nun geprüft, ob eine Immuntherapie für diese Gruppe nicht nur besser verträglich, sondern auch wirksamer als eine Chemotherapie ist.

Die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) ist die häufigste Krebsart bei Kindern und hat im Allgemeinen sehr gute Heilungschancen von etwa 90 Prozent. Ist die Erkrankung durch einen bestimmten genetischen Marker gekennzeichnet nämlich ein sogenanntes 11q23/KMT2A-Rearrangement, dann bleiben nach der Ersttherapie rund 70 Prozent der Kinder (≥1 Jahr) frei von Rückfällen innerhalb von fünf Jahren. Zu diesem Ergebnis kam eine internationale, retrospektive Analyse der Ponte-di-Legno Childhood ALL-Arbeitsgruppe mit der bisher größten Gruppe an Kindern ≥1 Jahr und Jugendlichen (n=629). Denn anders als bei Säuglingen, die bei Vorliegen eines 11q23/KMT2A-Rearrangements bekanntlich sehr schlechte Heilungschancen haben, war die Prognose für (Klein)kinder und Jugendliche bislang völlig unklar.

Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass in den größten beiden Untergruppen dieser Studie (B-ALL mit Translokation (4;11) und T-ALL mit t(11;19)) Patient:innen mit Stammzelltransplantation keinen Überlebensvorteil gegenüber jenen hatten, die ausschließlich Chemotherapie erhielten. Für Attarbaschi, der als Oberarzt im St. Anna Kinderspital Patient:innen aus der Studie betreute, hat das eine unmittelbare Konsequenz: „Aufgrund unserer Ergebnisse, wollen wir in unserer neuen ALL-Studie, die 2025 eröffnet wird, die Transplantation für die Untergruppe von Patient:innen mit einer Translokation (4;11) zurücknehmen. Somit hat diese Studie eine direkte klinische Auswirkung, was mich sehr freut.“

Besser, aber nicht gut genug
Die Wirksamkeit der Behandlung von Leukämie ist im Vergleich zu historischen Ergebnissen deutlich besser. Das führen die Forscher:innen einerseits auf die Optimierung der Chemotherapie und begleitenden Behandlungsmaßnahmen zurück, andererseits auf die viel genauere Zuordnung von Patient:innen zu Therapien, je nachdem, wie sie auf die Behandlung angesprochen haben.

Das Ergebnis sei aber nicht gut genug, so Attarbaschi. „Wir müssen die Ersttherapie weiter verbessern – das ist die zweite wichtige Aussage unserer Analyse. Daher prüfen wir nun, ob die Chemotherapie durch Immuntherapie ersetzt werden kann, womit wir die Behandlung auch besser verträglich machen wollen.“ Eine entsprechende Studie dazu, die den bi-spezifischen Antikörper Blinatumumab einsetzt, sei bereits am Laufen. Die Ergebnisse gelte es abzuwarten.

Einzigartiges Nachschlagewerk
Bei etwa fünf Prozent der Patient:innen mit ALL zeigt sich ein 11q23/KMT2A-Rearrangement. Daraus haben sich in der vorliegenden Arbeit fünf Untergruppen herauskristallisiert, die hier erstmals sehr detailliert beschrieben sind. „Bisher gab es so etwas nicht. Unsere Studie hat einen umfangreichen Anhang mit detaillierten Beschreibungen der Krankheitsuntergruppen und ist damit ein Nachschlagewerk. Ärzt:innen, die eine Patientin oder einen Patienten mit einer dieser seltenen genetischen Leukämievarianten haben, können nun nachschauen, wie Prognose und Therapieansprechen bei unseren Patient:innen waren. In der klinischen Praxis ist so etwas von unschätzbarem Wert“, führt Attarbaschi weiter aus.

Retrospektive Internationale Studie zur ALL mit 11q23/KMT2A Rearrangement
Ziel der hier vorgestellten retrospektiven internationalen Studie war es, prognostische Faktoren und die Wirksamkeit von allogener hämatopoetischer Stammzelltransplantation in der ersten Remission bei akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL) mit 11q23/KMT2A-Rearrangement zu ermitteln. Insgesamt wurden Daten von 629 Patient:innen retrospektiv ausgewertet, welche zwischen 1995 und 2010 eine Chemotherapie erhielten. Analysiert wurde, wie sich klinische und biologische Eigenschaften, das frühe Ansprechen (ermittelt durch minimale Resterkrankung am Ende der Induktionstherapie) und die Stammzelltransplantation auf das Therapieergebnis auswirkten.

Am Ende der Induktionsbehandlung lag die Remissionsrate bei 93 und das 5-Jahres-ereignisfreie Überleben (EFS) bei 69 Prozent. Letzteres zeigte teils stark variierende Werte in den einzelnen Subgruppen mit 42 Prozent bei Patient:innen mit Translokation (9;11)-positiver T-ALL und 65 Prozent bei jenen mit Translokation (4;11)-positiver B-ALL bis hin zu 91 Prozent bei Patient:innen mit Translokation (11;19)-positiver T-ALL.

Eine niedrige minimale Resterkrankung am Ende der Induktionsbehandlung ging mit einem günstigen EFS einher. Das EFS wurde bei Translokation (4;11)-positiver B-ALL und Translokation (11;19)-positiver T-ALL nicht durch eine Transplantation verbessert.

Über die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) mit KMT2A-Rearrangement
Etwa fünf Prozent der Patient:innen mit einer akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL) im Kindes- und Jugendalter weisen ein sogenanntes 11q23/KMT2A-Rearrangement auf. Bei Säuglingen ist diese genetische Veränderung bis dato mit einer sehr schlechten Prognose verbunden. Eine Studie, die eine neue Therapieform für Säuglinge prüft, steht kurz vor der Publikation.

Bei Kindern ab einem Jahr und Jugendlichen gibt die vorliegende Arbeit erstmals Einblicke in Eigenschaften und Prognose dieser sehr heterogenen Gruppe. Die größte identifizierte Untergruppe mit 273 Patient:innen stellt jene mit der Translokation (4;11) dar. Auch die Translokation (11;19) ist sehr häufig (n=106). Weitere Untergruppen sind die Translokationen (9;11), (6;11) und (10;11) mit jeweils 76, 20 und 14 Patient:innen. Diese genetischen Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich klinischer Merkmale der Leukämie, wie etwa der Anzahl der Leukämiezellen bei Diagnose, dem Alter des ersten Auftretens oder dem Therapieansprechen und der Prognose. Zudem treten die Translokationen (4;11), (6;11) und (10;11) nur bei der B-ALL auf, während (11;19) und (9;11) sowohl bei der B- als auch bei der T-ALL auftreten.

Publikation
Outcomes of Childhood Noninfant Acute Lymphoblastic Leukemia With 11q23/KMT2A Rearrangements in a Modern Therapy Era: A Retrospective International Study
Andishe Attarbaschi#; Anja Möricke#; Christine J. Harrison#; Georg Mann; André Baruchel; Barbara De Moerloose; Valentino Conter; Meenakshi Devidas; Sarah Elitzur; Gabriele Escherich; Stephen P. Hunger; Keizo Horibe; Atsushi Manabe; Mignon L. Loh; Rob Pieters; Kjeld Schmiegelow; Lewis B. Silverman; Jan Stary; Ajay Vora; Ching-Hon Pui; Martin Schrappe*; Martin Zimmermann*, on behalf of the Ponte-di-Legno Childhood Acute Lymphoblastic Leukemia Working Group

#Ko-Erstautor:innen: Andishe Attarbaschi; Anja Möricke; Christine J. Harrison
*Ko-Letztautoren: Martin Schrappe; Martin Zimmermann

Journal of Clinical Oncology, October 18, 2022 DOI: 10.1200/JCO.22.01297
https://ascopubs.org/doi/full/10.1200/JCO.22.01297

Förderung
Die Studie wurde unterstützt durch Förderungen des National Institute of Health (U10 CA98543 und U10 CA180886, U10 CA98413 und U10 CA180899) sowie durch die St. Baldrick’s Foundation, das National Cancer Institute (CA21765.) und American Lebanese Syrian Associated Charities.