Leukämie-Behandlung bei Kindern 2022: wo wir stehen und was es braucht

(Wien, 7.9.2022) Die internationale FORUM-Studie unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Christina Peters vom St. Anna Kinderspital und unter der wissenschaftlichen Koordination der St. Anna Kinderkrebsforschung war so erfolgreich, dass die Fachzeitschrift Frontiers in Pediatrics eine Anfrage der besonderen Art stellte: Die Expert:innen auf diesem Gebiet wurden eingeladen ein ganzes Forschungsthema zur akuten lymphoblastischen Leukämie bei Kindern zu bearbeiten. Das Ergebnis: 24 wissenschaftliche Arbeiten von 105 Autor:innen über besser verträgliche Behandlungsmethoden und die Möglichkeiten für eine Heilung ohne Stammzelltransplantation.

Die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) ist die häufigste Krebsart bei Kindern und die Heilungschancen sind generell sehr gut. Wird die Erkrankung jedoch als Hochrisiko-ALL eingestuft und eine Stammzelltransplantation notwendig, so ist eine Ganzkörperbestrahlung immer noch die Therapie der Wahl als Vorbereitung vor der Transplantation. Zu diesem Ergebnis kam die FORUM-Studie, die in 35 Ländern auf fünf Kontinenten durchgeführt wurde (Peters et al., Journal of Clinical Oncology 2020).

„Es handelt sich um die bisher größte Studie zu diesem Thema. Als wir die Ergebnisse im bekannten Journal of Clinical Oncology veröffentlicht hatten, lud Frontiers uns – das internationale Transplantationskonsortium für ALL – ein, eine ganze Sammlung an Übersichtsarbeiten zur ALL bei Kindern herauszugeben“, berichtet Christina Peters, affiliierte Klinikerin an der St. Anna Kinderkrebsforschung und Oberärztin am St. Anna Kinderspital. Als Herausgeber:innen dieses „Research Topic“ fungieren neben Christina Peters, auch Assoc.-Prof. Dr. Adriana Balduzzi (University of Milano Bicocca, Italien) und Prof. Dr. Peter Bader (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland).

Leben um den Preis von Langzeitfolgen?

Obwohl die Bestrahlung und Stammzelltransplantation von gesunden Spendern lebensrettend sein können, sind es Langzeitnebenwirkungen, die manchmal die Lebensqualität der Kinder und jungen Erwachsenen massiv beeinträchtigen. Dazu zählen Organschäden, Wachstumsverzögerung und die Entstehung weiterer Krebserkrankungen im Lauf des Lebens. Daher waren die erwähnten Arbeiten dringend notwendig, um aktuelle und zuvor veröffentlichte Ergebnisse übersichtlich darzustellen sowie Lösungsansätze zu diskutieren.

„Eine der brennendsten Fragen für mich ist, ob wir in der Ära moderner Immuntherapien wirklich noch eine Stammzelltransplantation brauchen“, erklärt Christina Peters. Ersatzweise kämen in Zukunft CAR-T-Zell- oder auch Antikörpertherapien in Frage, die Leukämiezellen direkt bekämpfen, führt die Forscherin weiter aus, was auch in drei der genannten Übersichtsarbeiten thematisiert wird. DDr. Jochen Büchner und Kolleg:innen beschäftigen sich etwa mit der Frage, ob und wann eine CAR-T-Zelltherapie als Überbrückung der Zeit bis zur Transplantation in Betracht käme und unter welchen Bedingungen sie als Ersatz einer Transplantation denkbar wäre. Assoc.-Prof. Dr. Tony H. Truong und Kolleg:innen diskutieren in ihrer Arbeit, welche Kinder überhaupt eine Stammzelltransplantation bekommen sollten. Natürlich solle die Transplantation nur für jene Patient:innen in Frage kommen, die mit ‚milderen‘ Therapien keine realistische Überlebenschance hätten. Aber gerade diese Grenzen verschieben sich derzeit.

Über 59.000 Aufrufe unserer Arbeiten

Die meisten Aufrufe in dieser Online-Sammlung hatte bisher der Artikel von DDr. Bianca A. W. Hoeben und Kolleg:innen, der sich mit neuen Methoden der Ganzkörperbestrahlung befasst. „Insgesamt haben wir mittlerweile über 59.000 Aufrufe unserer Artikel. Es scheint demnach viele Menschen zu beschäftigen, ob und wie wir die Transplantationsmethoden verbessern können, um Nebenwirkungen zu reduzieren“, so Christina Peters. Beispielsweise haben verschiedene Bestrahlungszentren unterschiedliche Methoden entwickelt, um eine geringere Strahlendosis in bestimmten Organen zu erreichen. Die Grenzen solcher Techniken liegen darin, dass eine ausreichende Strahlendosis notwendig ist, um die Leukämie zu bekämpfen und das eigene Immunsystem stillzulegen, damit die transplantierten Zellen nicht abgestoßen werden.

Neben den genannten Langzeitfolgen von Bestrahlung und Transplantation, spielen auch akute Nebenwirkungen der Transplantation eine große Rolle, wie etwa Infektionen in der Zeit, in der sich das Immunsystem erst wieder aufbauen muss (Olga Zajac-Spychala et al.), oder Komplikationen, weil die Spenderzellen gesundes Gewebe der Patient:innen angreifen. Mit der Vorbeugung und Behandlung der sogenannten Graft-Versus-Host-Erkrankung beschäftigen sich sechs der Artikel in diesem Forschungsthema (Steven J. Keogh et al., Anita Lawitschka et al., Jacob Rozmus et al., Agnieszka Sobkowiak-Sobierajska et al., Matthias Wölfl et al., Natalia Zubarovskaya et al.).

„Die Veröffentlichung dieses Forschungsthemas ist ein riesiger Erfolg für die St. Anna Kinderkrebsforschung. Gemeinsam mit den wertvollen Beiträgen einer Reihe von Kliniker:innen des St. Anna Kinderspitals haben wir brandaktuelle und klinisch relevante Manuskripte publiziert, die für die Behandlung von Kindern mit Hochrisiko-ALL von größter Bedeutung sind“, so Christina Peters.

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Über die FORUM-Studie

Die FORUM-Studie zeigte, dass Patient:innen über vier Jahren mit Hochrisiko-ALL, die eine Stammzelltransplantation brauchen, länger leben und ein geringeres Risiko für einen Rückfall haben, wenn sie eine Ganzkörperbestrahlung statt einer Chemotherapie zur Vorbereitung vor der Transplantation erhalten. Die Studie wurde nach Einschluss von 417 Teilnehmer:innen aus ethischen Gründen abgebrochen, als die geringere Heilungs- und Überlebenschance im Chemotherapie-Arm ersichtlich wurde. Es handelt sich um eine randomisierte, internationale, multizentrische Phase-III-Studie, in der die Nichtunterlegenheit der Chemotherapie mit Fludarabin, Thiotepa und Busulfan oder Treosulfan gegenüber Ganzkörperverstrahlung plus Etoposid als Vorbereitung vor einer Transplantation geprüft wurde. Die Studie ist das Ergebnis der Zusammenarbeit internationaler Studiengruppen (AIEOP-BFM-ALL-SG, IBFM-SG, INTREALL-SG und EBMT-PD-WP) und erfolgte unter der Leitung von Christina Peters.

Über das Forschungsthema in Frontiers

Das in Frontiers in Pediatrics veröffentlichte “Research Topic” Allogeneic Hematopoetic Stem Cell Transplantation for Children with Acute Lymphoblastic Leukemia in the Era of Immunotherapy steht hier zum Download zur Verfügung: https://www.frontiersin.org/research-topics/19704/allogeneic-hematopoetic-stem-cell-transplantation-for-children-with-acute-lymphoblastic-leukemia-in#overview

Folgende Themen wurden bearbeitet:

  • Sind Geschwister mit identem Humanen-Leukozyten-Antigen-System (HLA) immer noch die besten verfügbaren Spender:innen für eine hämatopoetische Stammzelltransplantation bei Akuter lymphatischer Leukämie (ALL)?
  • Die Herausforderung der ALL-Behandlung „älterer Kinder“: Was ist die beste Transplantationsstrategie für Adolescents and Young Adults (AYAs)?
  • Tyrosinkinaseinhibitoren für Philadelphia-Chromosom-positive (Ph+) und Ph-ähnliche ALL: Können wir auf eine hämatopoetische Stammzelltransplantation verzichten?
  • Bispezifische Antikörper vor hämatopoetischer Stammzelltransplantation: weniger Toxizität für bessere Transplantationsergebnisse?
  • CAR-T-Zelltherapie: Kurative Behandlung oder Brücke zur Transplantation?
  • T-Zell-Depletion: Cyclophosphamid nach einer Transplantation versus in vitro-T-Cell-Depletion
  • Warum ist Ganzkörperbestrahlung bei Hochrisiko-ALL so wirksam?
  • Ganzkörperbestrahlung für immer? Neue chemotherapeutische Optionen für strahlenfreie Konditionierung
  • Minimale Resterkrankung: Welcher Grad der Negativität ist relevant?
  • Aktuelle Behandlungsmöglichkeiten für akute Graft-versus-Host-Erkrankung bei Kindern
  • Aktuelle Behandlungsmöglichkeiten für die chronische Graft-versus-Host-Erkrankung bei Kindern
  • Immunrekonstitution und Chimärismus: eine andere Geschichte als bei Erwachsenen?
  • Spätfolgen nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation: Wo stehen wir heute?
  • Hochrisiko-ALL: Transplantationsindikationen im Jahr 2021
  • Entwicklung der Immunfunktion nach Stammzelltransplantation: Doppelt wirksame Prophylaxe gegen Leukämie und Infektionen
  • Infektionsmanagement gegen Bakterien, Pilze und Viren nach einer Stammzelltransplantation
  • SARS-CoV-2-Infektion nach einer Stammzelltransplantation: mehr Glück als Können?
  • Transplantation für die Jüngsten: besser als Chemotherapie?

Über Christina Peters

Univ.-Prof. Dr. Christina Peters ist Professorin für Kinder- und Jugendheilkunde an der Abteilung für Stammzelltransplantation des St. Anna Kinderspitals und affiliierte Klinikerin an der St. Anna Kinderkrebsforschung in Wien, Österreich. Sie ist Leiterin aktiver Studien im Rahmen der European Society for Blood and Marrow Transplantation (EBMT) und der Internationalen Berlin Frankfurt Münster Studiengruppe (IBFM) zur Behandlung pädiatrischer Leukämien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation bei Kindern und Jugendlichen mit bösartigen und anderen Bluterkrankungen, infektiöse und toxische Komplikationen nach Stammzelltransplantation, adoptive Zelltherapien und familienorientierte Rehabilitation für Kinder mit lebensbedrohlichen Erkrankungen.

Christina Peters war zwischen 2008 und 2014 Vorsitzende der Arbeitsgruppe für pädiatrische Bluterkrankungen der EBMT. Sie ist Autorin und Co-Autorin zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften wie The Lancet, The New England Journal of Medicine und dem Journal of Clinical Oncology. Sie ist regelmäßig Gutachterin für Veröffentlichungen in Fachzeitschriften für Hämatologie, Pädiatrie und Leukämie. Neben ihrer Mitgliedschaft in zahlreichen Fachgesellschaften, etwa der IBFM, dem Center for International Blood and Marrow Transplant Research (CIBMTR), der Deutschen und Österreichischen Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und der Österreichischen Gentherapie-Kommission, ist Christina Peters Mitglied der Bioethikkommission des Bundeskanzlers und Mitglied des European Network Paediatric Research der Europäischen Arzneimittelagentur EMA (ENPREMA).