Wie eine klinische Studie die Behandlung von Kinderleukämie revolutionierte

Ende der 1990er Jahre standen Kinderärzt*innen vor einem Dilemma. Zwar war die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) vom Todesurteil zur heilbaren Krankheit geworden (90% der Kinder überlebten bereits), doch dieser Erfolg hatte einen hohen Preis: Viele Kinder erhielten intensive Chemotherapien, die sie gar nicht brauchten. Das Gießkannenprinzip „alle gleich behandeln“ führte zur Überbehandlung von Patient*innen mit niedrigem Rückfallsrisiko und zur Unterbehandlung von Hochrisikofällen.

Die entscheidende Frage lautete: Wie erkennen wir, welches Kind welche Behandlungsintensität braucht?

Der wissenschaftliche Durchbruch: Die Messung der Minimale Resterkrankung

Forscher*innen der St. Anna Kinderkrebsforschung verwendeten eine ganz besondere Methode: die Messung der minimaler Resterkrankung (MRD). Mit dieser Technik kann eine einzige Leukämiezelle unter 10.000 gesunder Zellen aufgespürt werden – das ist weit genauer als über ein herkömmliches Mikroskop.

Die Idee war simpel: Messen wir diese molekularen Spuren zu zwei kritischen Zeitpunkten der Behandlung – nach 33 Tagen und nach 78 Tagen – so können wir am Vorhandensein dieser Krebsreste erkennen, ob ein*e Patient*in wirklich geheilt ist oder ob die Krankheit zurückkehren könnte.

Rund Zehn Jahre Vorbereitung: Von der Idee zur Anwendung

Die AIEOP-BFM ALL 2000 Studie war das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit in enger Zusammenarbeit zwischen der Associazione Italiana di Ematologia e Oncologia Pediatrica (AIEOP) und der deutsch-österreichischen-schweizerischen Berlin-Frankfurt-Münster (BFM) Studiengruppe, von der auch die St. Anna Kinderkrebsforschung ein Teil ist. Um die Aussagekraft der MRD-Messungen zu beweisen, führten die Forscher*innen zunächst eine verblindete Studie durch: In der ALL-BFM 1990 Studie analysierten sie systematisch MRD-Werte, ohne diese Ergebnisse für Behandlungsentscheidungen zu verwenden. Die behandelnden Ärzt*innen erhielten bewusst keinen Zugang zu diesen Daten, um eine unbeeinflusste Referenzgruppe zu schaffen. Diese methodisch saubere Herangehensweise war entscheidend: Sie bewies, dass MRD-negative Patient*innen nur 2% Rückfallrisiko hatten, während MRD-hochpositive Patient*innen zu 75% einen Rückfall erlitten.

Die Unterschiede waren so deutlich, dass sie die internationale Forschungsgemeinschaft überzeugten und 1999 die erste große Studie startete, die MRD als wichtigsten Stratifizierungsfaktor einsetzte.

Die Studie in Aktion: Präzision statt Vermutung

Zwischen Juni 1999 und Dezember 2009 behandelten österreichische Kinderärzt*innen 608 Kinder und Jugendliche nach dem neuen MRD-basierten Protokoll.

Das Protokoll teilte alle Patient*innen basierend auf ihren MRD-Werten in drei Gruppen ein:

  • MRD-Standardrisiko (29% der Patient*innen): Keine nachweisbaren Leukämiezellen nach 33 Tagen (nach Abschluss der Induktionstherapie). Diese Kinder erhielten weniger intensive Behandlungen.
  • MRD-Zwischenrisiko (68% der Patient*innen): Niedrige Mengen an Restzellen am Tag 33. Sie bekamen eine mittlere Behandlungsintensität.
  • MRD-Hochrisiko (4% der Patient*innen): Hohe Mengen an verbliebenen Leukämiezellen am Tag 78 (nach Abschluss der Konsolidierungstherapie). Diese Kinder benötigten die intensivste Therapie.
Die Behandlung: Personalisiert statt einheitlich

Das neue Protokoll kombinierte für alle Patient*innen eine intensive fünfwöchige Einleitungsbehandlung (Induktionstherapie) mit vier verschiedenen Chemotherapie-Medikamenten. Bereits hier testeten die Forscher*innen eine wichtige Frage: Wirkt das Kortikosteroid Dexamethason besser als das bisherige Standardmedikament Prednison? Da beide Wirkstoffe ähnlich wirken und als gleichwertig galten, erhielt zufällig die eine Hälfte der Patient*innen Dexamethason, die andere Hälfte Prednison.

Danach erfolgte eine vierwöchigen Vertiefungsphase (Konsolidierung), die die erreichte Remission stabilisieren sollte. Je nach Risikogruppe folgten weitere Behandlungsblöcke – aber erst nach einer bewussten Erholungspause für den Körper. So stellte man sicher, dass die erneute intensive Chemotherapie-Phase auch jene Krebszellen erwischte, die sich in schwer erreichbaren Körpernischen versteckt hatten.

Die Revolution: Zahlen, die Leben retten

Die Ergebnisse nach sieben Jahren übertrafen alle Erwartungen. Die Gesamtüberlebensrate lag bei 91%, die Rückfallrate bei nur 11%. Doch die wirkliche Revolution zeigte sich in den Details:

  • MRD-Standardrisiko: 98% Überlebensrate, nur 6% Rückfälle
  • MRD-Zwischenrisiko: 95% Überlebensrate, 13% Rückfälle
  • MRD-Hochrisiko: 83% Überlebensrate, 29% Rückfälle

Fast einem Drittel der jungen Patient*innen konnte durch diesen personalisierten Therapieansatz eine intensive Chemotherapie erspart bleiben: Gleich gute Heilungschancen bei weniger Nebenwirkungen und weniger Langzeitfolgen.

Auch der Medikamentenvergleich zeigte wichtige Ergebnisse: Dexamethason erzielte insgesamt bessere Ergebnisse als Prednison, allerdings mit mehr Nebenwirkungen. Bei den intensiveren Protokollen stellte sich heraus, dass „mehr“ nicht automatisch „besser“ bedeutete.

Von Österreich in die Welt

Die AIEOP-BFM ALL 2000 Studie veränderte die internationale Behandlung der ALL bei Kindern grundlegend. MRD-basierte Risikostratifizierung wurde zum Standard in allen nachfolgenden Studien.

Heute profitieren Kinder weltweit von diesen Erkenntnissen. Die Studie zeigt eindrücklich, wie klinische Forschung funktioniert: als systematische Brücke zwischen Laborentdeckungen und besseren Behandlungen.

Die beiden Grafiken zeigen das Überleben von Kindern mit akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL) in verschiedenen Studien. Links: Daten aus dem St. Jude Children’s Research Hospital, wo Studien schon in den 1960er-Jahren begonnen haben. Rechts: Ergebnisse der ALL-BFM-Studien, die in den 1980er Jahre starteten. Jede Linie steht für Kinder, die in einem bestimmten Zeitraum behandelt wurden. Je höher die Linie liegt desto mehr Kinder überleben. Die Grafik zeigt also, dass von Studie zu Studie immer mehr Kinder ihre Krebserkrankung überleben.