Genetischer Defekt in sekundären Immunorganen führt zu lebensbedrohlichen Infektionen bei Kindern

(Wien, 22.11.2024) Ein internationales Team unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Kaan Boztug hat eine völlig neue Form einer seltenen Erkrankung identifiziert, die die sogenannten sekundäre lymphatische Organe betrifft. Das sind spezielle Bereiche im Körper, in denen sich Immunzellen vermehren und entwickeln, um auf neue Krankheitserreger wie Viren und Bakterien zu reagieren. Diese Entdeckung hilft, die Bedeutung derselben für das menschliche Immunsystem zu verstehen. Bei mehreren Kindern führt der von den Forschenden entdeckte genetische Defekt dazu, dass diese Organe entweder gar nicht gebildet werden oder in ihrer Funktion stark eingeschränkt sind. In der Folge leiden die betroffenen Kinder unter wiederkehrenden, lebensbedrohlichen Infektionen. Die in Science Immunology veröffentlichten Ergebnisse könnten die Behandlungsmöglichkeiten für Patient*innen mit ähnlichen Erkrankungen erheblich verbessern.

In den vergangenen Jahren hat die Forschungsgruppe um Univ.-Prof. Dr. Kaan Boztug mehrere seltene genetische Erkrankungen des Immunsystems identifiziert und hierdurch die Funktion wichtiger Bestandteile des Immunsystems charakterisiert. Die Arbeiten um das Team von Kaan Boztug haben auch wesentliche neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Immundefekten und die Neigung zur Entwicklung von Tumorerkrankungen im Kindesalter erbracht. Der Experte für seltene Erkrankungen ist wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung, forscht an der MedUni Wien und am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der ÖAW.

Ein ganz neuer Erkrankungstyp

Die aktuelle Studie, die in Kooperation mit führenden Zentren in Istanbul und Ankara durchgeführt wurde, beschreibt eine neuartige seltene Erkrankung, die gleich in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich ist. „In der DNA der Betroffenen konnten wir Veränderungen im LTβR-Gen identifizieren, das den Bauplan für den Lymphotoxin-Beta-Rezeptor (LTβR) enthält“, erklärt Dr. Bernhard Ransmayr, Erstautor der Studie und PhD-Student im Labor von Kaan Boztug. Den betroffenen Patienten fehlen sämtliche Lymphknoten, einschließlich der Tonsillen (Mandeln), und ihre Milz ist nicht funktionsfähig. Diese sogenannten sekundären lymphatischen Organe sind jedoch essenziell für die Aktivierung des Immunsystems und die Differenzierung, also Weiterbildung und Vermehrung spezialisierter Immunzellen. In der Folge können diese Patienten keine ausreichende Anzahl von schützenden Antikörpern bilden.

Künstliche Umgebung bietet Einblicke

Interessanterweise sind die Immunzellen von dem genetischen Defekt gar nicht direkt betroffen, sondern indirekt durch das Fehlen der unterstützenden Umgebung in den sekundären lymphatischen Organen, erklärt Ransmayr. Dem Team gelang der Nachweis dafür, indem es im Labor eine künstliche Umgebung schuf, die die Struktur und Funktion von Lymphknoten nachahmte. In dieser Umgebung konnten sich auch Zellen von den Patienten in antikörperbildenden Immunzellen (B-Zellen) normal weiterentwickeln. Diese Erkenntnis unterstreicht die fundamentale Bedeutung der Interaktionen zwischen den umgebenden Zellen (sogenannten Stromazellen) und den eigentlichen Immunzellen für die Bildung einer effektiven Immunabwehr.

Von der Immungenetik zur Präzisionsmedizin

Boztug betont: „Die Entdeckung des LTβR-Defekts markiert einen bedeutenden Fortschritt in unserem Verständnis der Architektur von Immunorganen und ihrer Bedeutung für die menschliche Gesundheit. Sie verdeutlicht, wie grundlegende Forschung unmittelbar dazu beitragen kann, das Leben von Patient*innen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern. Patienten mit LTβR-Mutationen profitieren von einer Betreuung in spezialisierten Immundefektzentren und entsprechende medikamentöse Unterstützung der Immunabwehr. Wir gehen davon aus, dass eine Knochenmarkstransplantation – die ja als Methode bei anderen Immundefekten eine Heilung ermöglichen kann – hier keinen Erfolg verspricht, da der Defekt nicht die Immunzellen selbst, sondern die Struktur von lymphatischen Organen an sich betrifft.“ Das Ziel der weiteren Forschung ist, die molekularen Mechanismen von LTβR im menschlichen Immunsystem weiter zu entschlüsseln und mögliche Therapieoptionen weiterzuentwickeln.

Publikation

 LTβR deficiency causes lymph node aplasia and impaired B-cell differentiation Bernhard Ransmayr M.D., Sevgi Köstel Bal, M.D., Ph.D., Marini Thian, Ph.D., Michael Svaton, M.D., Ph.D., Cheryl van de Wetering, Ph.D., Christoph Hafemeister, Ph.D., Anna Segarra-Roca, M.Sc., Jana Block, Ph.D., Alexandra Frohne, M.Sc., Ana Krolo, Ph.D., Melek Yorgun Altunbas, M.D., Sevgi Bilgic Eltan M.D., Ayca Kıykım, M.D., Omer Aydiner, M.D., Selin Kesim, M.D., Sabahat Inanir M.D., Elif Karakoc-Aydiner, M.D., Ahmet Ozen M.D., Ümran AbaM.Sc., Aylin Çomak M.D., Gökçen Dilşa Tuğcu, M.D., Robert Pazdzior, Ph.D., Bettina Huber, Ph.D., Matthias Farlik, Ph.D., Stefan Kubicek, Ph.D., Horst von BernuthM.D., Ph.D., Ingrid Simonitsch-Klupp., Marta Rizzi, M.D., Ph.D., Florian Halbritter, Ph.D., Alexei V. Tumanov, M.D., Ph.D., Michael J Kraakman Ph.D., Ayşe Metin, M.D., Ph.D., Irinka Castanon Ph.D., Baran Erman Ph.D., Safa Baris, M.D., Kaan Boztug.D.

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